Das Bettelmädchen und der indische Gott
Gerade als die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont hervorkamen, bemerkte Sudha weiter vorne eine Schar Geier, auf die das spärliche Licht fiel. Das war nichts Außergewöhnliches hier draußen, hätten sie nicht eine Art Kreis gebildet. Außerdem waren es viele, mindestens acht oder neun und es sah bedrohlich aus.
Menschen taten die großen nützlichen Tiere eigentlich nichts, das wusste die Neunjährige und näherte sich voll klammer Neugier. Die grau-weißen und aschbraunen Vögel zuckten sichtbar, verharrten aber in ihrer Aufstellung, als warteten sie darauf, bis ihr Opfer verendete.
Das Mädchen, das nicht viel mehr als einen Kopf größer war als die aufrecht stehenden Aasfresser, brachte Unruhe in die Tiere. Als zwei der großen Todesvögel einen halben Meter zur Seite sprangen, als ob sie einen besseren Platz suchten, sah Sudha ein Bündel vor ihnen auf der Erde liegen, das sich bewegte. Die ausgetrocknete Erde unter dem Müll war nahezu schwarz.
Instinktiv spannte sie ihr dunkelrotes Sarituch fester und zögerte. Nie zuvor war sie Geiern so nahe gekommen oder hätte gar gewagt, sich einer solchen Ansammlung der angsteinflößenden Greifvögel zu nähern, doch sie war sich beinahe sicher, dass es ein Kind oder ein Baby war, das im Sterben lag. Ihre Aufregung war so groß, dass sie den Fäulnisgestank auf der Abfallhalde überhaupt nicht mehr wahrnahm.
Ihre Augen waren gebannt auf die Stofffetzen gerichtet, in die das kleine Lebewesen eingewickelt war. Vor lauter Anspannung spürte sie jeden einzelnen Stein unter ihren Zehen. Als der vorderste Geier plötzlich sein mächtiges Gefieder geräuschvoll aufschwang, erschrak sie heftig. Er flog aber nicht weg, sondern sprang nur zur Seite.
Das dunkle Bündel lag im Schatten der Vögel, sonst hätte sie besser erkennen können, ob es tatsächlich ein kleines Kind war. Geier waren immer zur Stelle, wenn ein Lebewesen zur Erde fiel und lauerten auf den Tod, sogar bei den heiligen Kühen machten sie keine Ausnahmen, das hatte sie schon öfter beobachtet. Wäre das Wesen da vorne schon tot oder schwer verletzt gewesen, würden sie nicht nur herumstehen, sondern auf ihm herumhacken, dachte sie, und das machte ihr Mut, vorsichtig weiter zu gehen.
Laut um Hilfe zu schreien oder mit den herumliegenden Gegenständen nach den Vögeln zu werfen, traute sie sich nicht. Sie hatte Angst, dass sie ihre Beute dann mit ihren langen Schnäbeln schnappten und mit sich fortrissen.
Nur einer, dann ein zweiter der mächtigen Geier wich springend etwas zur Seite, als Sudha noch näher kam. Nach wie vor konnte sie nichts richtig erkennen, es war alles grau in grau. Und die ersten Sonnenstrahlen, die gerade zum Vorschein kamen und auf die Geier fielen, warfen Schatten. Am liebsten hätte sie jetzt ihre Mutter zu Hilfe geholt, aber die war schon viel zu weit entfernt.
Als sie beinahe Seite an Seite mit den großen Vögeln war, die sie anscheinend respektierten, hoffte sie darauf, dass sich das eingewickelte Bündel wieder bewegte. Innerlich bebend rief das Hindumädchen leise: „Kannst du mich hören?“, doch ihre Stimme versagte und ein ratterndes Geräusch von der entfernten Straße übertönte alles.
Da die Geier nicht gefährlich reagierten, sondern stur verharrten, legte sich Sudhas Angst ein wenig, dass sie ihr etwas tun würden. Augenblicke später, der Straßenlärm war in der Ferne verklungen, bemerkte sie eine Bewegung, wahrscheinlich war es ein Fuß. Durch die Neunjährige ging ein heftiger Ruck. Sie duckte sich wie zum Schutz, sprang regelrecht hin, bückte sich auf den Boden und sah, dass es ein Kind war.
Es lebte, das sah sie sofort, als es fast erstaunt die Augen aufschlug. Beider Blicke kreuzten sich. Es war, als ob das kleine Wesen sie anlächelte. Es ging ihr durch und durch. Wie in Trance packte sie das schmutzige Bündel und wollte einfach weglaufen, doch es entglitt ihr. Ihre Hände waren zu nass vom Angstschweiß und das Kind war schwerer als es aussah.
Angstvoll drehte sie sich nach den Geiern um. Einige hüpften bedrohlich näher. Sudha krallte ihre Fingernägel in den zerschlissenen Stoff und konnte das Kind unter ihren rechten Arm packen. Diesmal passte sie auf, dass sie es halten konnte, schnellte aus der Hocke hoch und lief davon.
Erst als sie sicher war, dass die Geier sie zwischen den Müllansammlungen nicht verfolgten, hielt sie inne, kauerte sich auf den Boden, um zu verschnaufen. Ein unbeschreiblicher Gestank machte ihr das Atmen schwer, aber das Kind in ihrem Arm sah sie aus großen Augen an, fast reglos, so dass sie Angst bekam, es könne sich vielleicht nicht mehr recht bewegen oder habe Lähmungen.
„Hallo“, sagte sie, „ich heiße Sudha, und wie heißt du?“