Zum Heulen und Vergöttern
Kurzgeschichten
Fahre nachmittags kurz zu Hause vorbei, um ein paar Sachen zu packen, als mich eine junge Frau anspricht, die rechts neben meiner Wohnungstüre sitzt und aufsteht, als ich die Treppe hochkomme.
„Hallo Herr Reiners, ich bin Anita Kendel, viel- leicht erinnern Sie sich, Sie haben mich vor gut einem Jahr zu zehn Tages- sätzen à 50 Euro verurteilt und mir nach der Verhandlung das Geld aus eigener Tasche geschenkt.“
Spontan gebe ich ihr die Hand. „Wiedererkannt hätte ich Sie wohl nicht, aber natürlich erinnere ich mich sehr gut. Warten Sie denn auf mich?“
Sie nickt. „Darf ich vielleicht zwanzig Minuten mit Ihnen sprechen? Ich habe den ganzen Tag über probiert, Sie zu erreichen.“
„Na dann kommen Sie nur herein.“
Die Frau ist etwa 24, gelernte Bankkauffrau, hatte die Kasse in einer Tankstelle ausgeraubt und ein paar tausend Euro erbeutet. Ich glaubte ihr damals, dass sie von ihrem Freund erpresst wurde, doch es war rechtlich nicht möglich, sie ganz freizusprechen. Weil sie kein Geld hatte und ersatzweise in einem Frauenhaus Dienst hätte leisten müssen, habe ich ihr aus Mitleid anschließend die 500 Euro geschenkt.
„Nennen Sie mich Anita, ich bin so schrecklich froh, dass Sie sich Zeit nehmen.“
Wir setzen uns in mein häusliches Büro, trinken Kaffee aus der Thermoskanne, der noch annehmbar warm ist.
„In der Klemme sitzt du aber nicht, oder doch, Anita?“, frage ich in dunkler Vorahnung.
„Ich habe nichts mehr Kriminelles gemacht, wenn Sie das meinen, aber ich stecke in einer anderen Klemme, aus der ich Angst habe, nicht wieder allein herauszufinden. Ich dachte, Sie können mir vielleicht moralisch irgendwie weiterhelfen, schon so ein Gespräch gibt mir viel, ich kenne niemanden wie Sie, seit meine Tante tot ist.“
„Erzähl mal“, fordere ich sie auf.
„Dass Sie mir damals einfach so das Geld geschenkt haben, hat mir unglaublich geholfen, mich aus meinem Sumpf herauszuarbeiten, weil ausgerechnet ein unbekannter Richter Vertrauen zu mir hatte. Ich habe sofort mit meinem Freund Schluss gemacht, bin abgehauen zu meiner Tante aufs Land, wo er mich nicht finden konnte, aber Tante Gudrun, die Volkswirtin war, ist letzte Woche gestorben.“
„Oh“, mache ich und erinnere mich, dass ihre Mutter wohl Alkoholikerin war und der Vater nicht mehr lebt.
„Sie können sich sicher vorstellen“, fährt sie fort, „dass keine Bank, keine Versicherung, kein Finanzdienstleister mich mehr beschäftigen will, und sonst habe ich nur Drecksstellen gefunden, wo ich auf die eine oder andere Weise angemacht oder bedroht wurde und wieder verschwinden musste.
Der Sozialarbeiter, den ich eine Zeitlang hatte, war keinerlei Hilfe, weil er mir auch nur an die Wäsche wollte. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, will aber nicht zu den öffentlichen Stellen und Sozialhilfe oder Hartz IV beantragen, weil ich wirklich was leisten kann und mein Geld selbst verdienen möchte. Ich finde zurzeit mal da und dort Unterschlupf und Aushilfsarbeiten. Bei meiner Mutter kann ich nicht bleiben, dort bin ich nicht sicher, weil sie dauernd Männer bei sich wohnen lässt.“
Sie guckt so drein, als ob sie sich entschuldigen müsste.
„Ich dachte, wenn ich mit Ihnen ab und zu reden könnte, vielleicht auch mal um Rat fragen, quasi als moralische und verbale Anlaufstation, würde mir das sicher den Mut geben, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Irgendwie finde ich schon was, wo ich mich bewähren kann, aber so allein auf mich gestellt, fressen mich Angst und Verzagen noch auf.“